B. Theoretische Grundlagen

1 Grundlagen der Mikrowellenspektroskopie

Da die theoretischen Grundlagen zur Rotationsspektroskopie in der Literatur bereits ausführlich abgehandelt worden sind (vgl. z.B. [13]), soll im Rahmen dieser Arbeit aus Gründen der Geschlossenheit lediglich ein kurzer Überblick gegeben werden.

1.1 Trägheitsmomente und Klassifizierung von Molekülen

Die für die Rotationsspektroskopie wichtigsten molekularen Größen sind die Hauptträgheitsmomente. Sie werden durch die Massenverteilung innerhalb des Moleküls bestimmt. Bezüglich dreier beliebiger kartesischer Achsen x, y und z mit Ursprung im Schwerpunkt enthält der Trägheitstensor neun Elemente:
         /Ixx  Ixy  Ixz\   Ixx = S(mi(yi²+zi²)),  x, y, z zyklisch
     I = |Iyx  Iyy  Iyz|                                                 (1)
         \Izx  Izy  Izz/   Ixy = S(mi xi yi),     x, y, z zyklisch
Dabei bedeuten mi die Masse des i-ten Atoms und xi, yi und zi dessen Koordinaten. Der Summationsindex i läuft über alle Atome des Moleküls. Die Größen Igg nennt man Trägheitsmomente, die Größen Igg' (g¹g') heißen Deviationsmomente. Wie man aus der Definition der Deviationsmomente sehen kann, ist der Trägheitstensor symmetrisch, d.h. Ixy = Iyx usw. Durch geeignete Wahl des Koordinatensystems kann man erreichen, daß alle Deviationsmomente verschwinden und der Trägheitstensor diagonal wird. Dieses Koordinatensystem wird dann als das Hauptträgheitssystem des Moleküls bezeichnet. Die Elemente des Hauptträgheitstensors sind die drei Hauptträgheitsmomente Ix = Ixx, Iy = Iyy und Iz = Izz.

Diese drei Hauptträgheitsmomente werden nun ihrer Größe nach als Ia, Ib und Ic benannt, wobei gilt: Ia < Ib < Ic. Sind alle drei Hauptträgheitsmomente verschieden, so spricht man von einem asymmetrischen Kreisel. Sind zwei der drei Haupträgheitsmomente gleich, so nennt man diese Moleküle symmetrische Kreisel. Je nachdem, welche der beiden Hauptträgheitsmomente gleich sind, wird weiter unterschieden in langgestreckte (prolate) Kreisel (Ia < Ib = Ic) und abgeplattete (oblate) Kreisel (Ia = Ib < Ic). Ein Molekül mit drei gleichen Hauptträgheitsmomenten bezeichnet man als Kugelkreisel.

1.2 Rotationskonstanten und Energieniveaus

Für die praktische Arbeit werden aus den Hauptträgheitsmomenten noch drei wichtige Größen abgeleitet, nämlich die Rotationskonstanten. Sie sind definiert als:
A = h/(8p²Ia) , (entsprechend für B und C),                           (2)
wobei h das Plancksche Wirkungsquantum darstellt. Der Faktor h/8p²wird oft als Umrechnungsfaktor von Rotationskonstanten in Trägheitsmomente und umgekehrt verwendet. Der aktuelle Wert beträgt 505379,1(6) MHz u Ų.

Der Hamiltonoperator, der die Rotation eines asymmetrischen Kreisels beschreibt, kann wie folgt formuliert werden:

H = (4·pi²)/h (A·Pa² B·Pb² C·Pc²) .                                      (3)
Dabei sind die Pg die Drehimpulsoperatoren bezüglich der drei Hauptträgheitsachsen. Die Berechnung der Energieniveaus wird erleichtert, wenn man den Hamiltonoperator, wie von Ray
[14] vorgeschlagen, etwas umformuliert:
H = (4·p²)/h (1/2 (A+C)P² + 1/2 (A-C) H(k)) .                     (4)
Mit P² = Pa² + Pb² + Pc². H(k) ist der reduzierte Hamiltonoperator. Er ist definiert als:
H(k) = Pa² + kPb² - Pc² .                                        (5)
k ist der Raysche Asymmetrieparameter für den gilt:
k = (2 B - A - C)/(A - C) .                                        (6)
Dieser Parameter ist gleichsam ein Maß für die Asymmetrie des Trägheitsellipsoids und wird für die beiden symmetrischen Grenzfälle +1 (oblate) bzw. -1 (prolate).

Für die Energie eines Rotationsniveaus eines starren Rotators erhält man dann:

E = h (½(A+C)J(J+1) + ½(A-C)EJt(k)) .                      (7)
Dabei ist t eine Laufzahl, welche zur Identifizierung der einzelnen Niveaus verwendet wird. Früher wurden zur Berechnung der Energieniveaus oft die tabellierten Eigenwerte EJt(k) von H(k) benutzt, während man heute aufgrund der Verfügbarkeit schneller Rechner H(k) numerisch diagonalisieren kann und dadurch genauere Ergebnisse erhält als durch Interpolation der Tabellenwerte.

1.3 Zentrifugalverzerrung

Moleküle stellen nur in recht grober Näherung starre Gebilde dar. Vor allem für höhere Werte des Drehimpulses treten - je nach Molekül mehr oder weniger stark - Zentrifugalverzerrungseffekte auf. Die heute übliche Behandlung dieser Effekte geht auf Wilson [15] und Kivelson [16], sowie auf Watson [17] zurück. Die dabei verwendeten Korrekturterme sind Glieder einer Reihenentwicklung gerader Potenzen des Drehimpulses. Der quadratische Term entspricht der Energie des starren Kreisels, die Korrekturen sind dann quartisch, sextisch, oktisch, usw. Bei nicht zu "weichen" Molekülen und mittleren Rotationsquantenzahlen (J bis 40) genügt es, die quartischen Terme zu berücksichtigen (dann kommen zu den drei Rotationskonstanten noch fünf Zentrifugalverzerrungskonstanten hinzu). Bei höheren Rotationszuständen oder leicht deformierbaren Molekülen müssen auch sextische (sieben Konstanten) oder noch höhere Terme berücksichtigt werden.

Für die Zentrifugalverzerrungskorrekturen nach Watson gibt es zwei Möglichkeiten: die S-Reduktion (für Moleküle nahe dem symmetrischem Grenzfall) und die A-Reduktion (allgemein für asymmetrische Kreisel). Im Falle des Dimethylcyclohexadienons, das ein fast symmetrisches Trägheitsellipsoid besitzt, wurden beide Reduktionen verwendet. Die Standardabweichung der Anpassung war in beiden Fällen gleich, die Parameter waren aber in der S-Reduktion etwas stärker korreliert, sodaß (auch zur besseren Vergleichbarkeit der Ergebnisse in dieser Arbeit) nur die Konstanten der A-Reduktion angegeben werden.

2 Strukturbestimmung

2.1 Die Nullpunktsschwingung

In der Literatur findet sich bei Angaben über die Struktur von Molekülen eine verwirrende Vielzahl von verschiedenen Bezeichnungen für die Strukturparameter. Dies liegt in der Tatsache begründet, daß ein Molekül selbst am absoluten Nullpunkt (0 K) eine nichtverschwindende innere Energie hat, die sogenannte Nullpunktsenergie. Sie führt dazu, daß ein Molekül nie in völliger Ruhe ist. Das heißt, daß ein nicht-schwingendes Molekül ein fiktives Modell darstellt: je nach Temperatur stellt sich eine bestimmte Verteilung der Moleküle auf die verschiedenen Schwingungszustände ein. Im einfachsten Fall - nämlich am absoluten Nullpunkt - befinden sich alle Moleküle im Schwingungsgrundzustand. Bei höheren Temperaturen werden aber auch höhere Schwingungsniveaus zum Teil nicht unerheblich besetzt.

Die Zeitskala der Kernschwingungen ist so kurz, daß mit den meisten spektroskopischen Methoden, die zur Strukturbestimmung angewandt werden, keine zeitliche Auflösung der Kernbewegung erfolgen kann. So erhält man also nur den Erwartungswert der entsprechenden Meßgröße über der Wellenfunktion des Schwingungszustandes. Bei der Elektronenbeugung sind die Wechselwirkungszeiten zwar so kurz, daß gleichsam "Momentaufnahmen" der Kernabstände gemacht werden. Zum Erzeugen des Beugungsbildes sind jedoch viele einzelne Elektronen nötig, die alle möglichen verschiedenen Kernabstände "abbilden" und so wiederum zu einer Mittelung führen.

Da im Normalfall mehr als ein Schwingungsniveau besetzt ist, wird die Struktur, die man experimentell bestimmt, ganz entscheidend davon abhängen, ob man experimentell nur einen Schwingungszustand erfaßt oder mehrere. Im letzteren Fall ist auch noch von Bedeutung, wie die Mittelung über die Schwingungszustände erfolgt. All diese Faktoren sind stark von der verwendeten Methode abhängig. So erhält man zum Beispiel in der Mikrowellenspektroskopie Strukturdaten für einen bestimmten Schwingungszustand, während in der Gasphasen-Elektronenbeugung über alle besetzten Schwingungszustände gemittelt wird.

2.2 Strukturdefinitionen

Nachfolgend seien einige der wichtigsten Strukturtypen angeführt und grob erläutert. (Eine gute Zusammenfassung bietet [18a]).

2.2.1 Die r0-Struktur

Diese Struktur wird üblicherweise aus der Rotations- (Mikrowellen-) oder der Rotations-Schwingungs- (Infrarot- oder Raman-) Spektroskopie erhalten. Die Parameter werden gewonnen, indem man ein hypothetisch starres (nichtschwingendes) Modell an die experimentell bestimmten Rotationskonstanten bzw. Hauptträgheitsmomente eines Moleküls im Schwingungsgrundzustand (v=0 für alle Normalschwingungen) anpaßt. Die Hauptträgheitsmomente Ig,0 eines Moleküls im Schwingungsgrundzustand sind aus den spektroskopisch bestimmbaren Rotationskonstanten zugänglich. Es gilt (vgl. Gleichung 2)
Ig,0 = h/(8p² Bg,0) ,  g = a, b, c.                                  (2a)
Dabei ist Bg,0 die Rotationskonstante im Schwingungsgrundzustand bezüglich der Achse g (für Ba,0 wird meistens A0 geschrieben, entsprechend B0 und C0 für die b- und c-Achsen) und Ig,0 das Hauptträgheitsmoment im Schwingungsgrundzustand bezüglich der Achse g. Werden Größen ohne Index angegeben, so beziehen sich die Werte i.a. auf den Schwingungsgrundzustand.

Aus den Hauptträgheitsmomenten ist dann prinzipiell die Struktur zugänglich, denn es gilt:

Ia,0 = S(mi (b0,i² + c0,i²) ,  a, b, c zyklisch,                   (8)
Hier steht mi für die Masse des i-ten Atoms und g0,i für den Erwartungswert der g-Koordinate des i-ten Atoms im Schwingungsgrundzustand. Der Summationsindex i läuft über alle Atome.

Durch die Messung eines bestimmten Isotopomers erhält man maximal drei unabhängige Hauptträgheitsmomente (bei planaren und linearen Molekülen und bei symmetrischen Kreiseln sogar weniger). Vor allem bei größeren Molekülen ist die Anzahl der unabhängigen Strukturparameter jedoch meist erheblich größer. In solchen Fällen muß man entweder Annahmen über bestimmte Strukturparameter machen oder zusätzliche Informationen aus der Messung isotopensubstituierter Moleküle heranziehen. Bei dem zweiten Verfahren muß vorausgesetzt werden, daß sich die Geometrie des Moleküls zwischen zwei Isotopomeren nicht unterscheidet. Für die "Ruhepositionen" (die re-Struktur) trifft dies zu. Die Wellenfunktionen - und damit auch die Erwartungswerte der Koordinaten - im schwingenden Molekül sind jedoch von der Masse abhängig. Besonders drastisch ist dieser Effekt verständlicherweise für Wasserstoffatome. Hier vergrößert sich die Masse bei Substitution durch Deuterium auf das Doppelte und diese Näherung ist dann offensichtlich ungenau.

Doch auch bei schwereren Atomen macht sich dieser Effekt außerhalb der experimentellen Fehlergrenzen bemerkbar und so ist eine r0-Struktur immer davon abhängig, welche Atome im Molekül für die Strukturbestimmung isotopiert wurden. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist Carbonylsulfid OCS. Die Struktur dieses Moleküls wird durch zwei unabhängige Strukturparameter beschrieben.

Da man aus dem Mikrowellenspektrum dieses linearen Moleküls aber pro Isotopenspezies nur ein Hauptträgheitsmoment erhält, muß man mindestens zwei Isotopomere messen, um die Struktur bestimmen zu können. Die Strukturdaten, die man für verschiedene Paare von Isotopomeren erhält, sind in Tabelle B.1 zusammengefaßt.

Isotopomerenpaar      r0(C=O)    r0(C=S)
------------------------------------------
16O12C32S - 16O12C34S   1,1647     1,5576
16O12C32S - 16O13C32S   1,1629     1,5591
16O12C34S - 16O13C34S   1,1625     1,5594
16O12C32S - 18O12C32S   1,1552     1,5653
------------------------------------------
     rmax - rmin       0,0095     0,0077
Tab. B.1: r0-Abstände für OCS aus unterschiedlichen
Isotopomeren-Paaren (aus
[19]).

2.2.2 Die rs-Struktur

Die Mehrdeutigkeit der r0-Struktur wird umgangen, wenn man alle möglichen nicht-äquivalenten Einfachsubstitutionen vornimmt und daraus eine einzige Struktur ermittelt: die rs-Struktur (s für Substitution). Die hierfür erforderlichen Formeln gehen auf Kraitchman [20] zurück, während die Bestimmung einer solchen rs-Struktur zum ersten Mal von Costain [21] vorgeschlagen wurde. Diese Methode ermöglicht es, aus den Hauptträgheitsmomenten des "parent molecule" (Muttermoleküls) und denen eines einfach substituierten Isotopomers die Koordinaten des substituierten Atoms zu berechnen:
|a| = SQR(DPa/m(1+DPb/(Ia-Ib))(1+DPc/(Ia-Ic))), 
                                       a, b, c zyklisch.                 (9)
Dabei ist
DPa = -½(DIa-DIb-DIc) , a, b, c zyklisch,     (10)
mit
DIg = (I'g - Ig) , g = a, b, c                                    (11)
und
m = (M(M' - M))/(M + (M' - M).                                       (12)
M bedeutet dabei die Molekülmasse. Ungestrichene Größen beziehen sich auf das Muttermolekül, gestrichene Größen auf das isotopierte Molekül.

Wenn man alle nicht symmetrie-äquivalenten Positionen isotopiert hat, erhält man aus diesen Gleichungen also die Koordinaten aller Atome und kann daraus Bindungsabstände und -winkel berechnen. Diese Struktur beschreibt dann allerdings keines der gemessenen Spektren, sondern stellt gleichsam eine Mittelung zwischen den verschiedenen r0-Strukturen dar.

  Muttermolekül   rs(C=O)    rs(C=S) 
--------------------------------------
    16O12C32S      1,16012    1,56020
    16O13C32S      1,16017    1,56008
    16O12C34S      1,16075    1,55963
    18O12C32S      1,15979    1,56063
--------------------------------------
   rmax - rmin     0,00096    0,00100
Tab. B.2: rs-Abstände für OCS ausgehend von
unterschiedlichen Muttermolekülen (aus
[21]).

Je nachdem, welches Isotopomer als Muttermolekül verwendet wird, erhält man zwar auch hier verschiedene Werte (vgl. Tab. B.2). Allerdings ist die Spannbreite der Werte deutlich kleiner. Während der Unterschied zwischen dem kürzesten und dem längsten C=O-Abstand bei der r0-Methode 0,0095 Å beträgt, so liegen die Extremwerte bei der rs-Methode nur etwa 10% dieses Betrages, nämlich 0,00096 Å, auseinander.

2.2.3 Die re-Struktur

In der Natur existieren keine Moleküle, deren effektive Geometrie durch die re-Struktur (e für equilibrium = Gleichgewicht) beschrieben wird. Das liegt daran, daß diese einen potentiell schwingungsfreien Zustand beschreibt. Da sie andererseits aber die einzige Struktur ist, welche eben die Schwingungseffekte ausschließt, wird sie i.a. als die Referenz-Struktur betrachtet. Sie entspricht dem Minimum der Potentialhyperfläche. Weil sie experimentell nicht direkt zugänglich ist, sondern aus Daten mit Schwingungsanteilen berechnet werden muß, ist eine genaue Kenntnis des Potentials und der beteiligten Schwingungen nötig, um eine re-Struktur zu erhalten. Aus diesem Grund gibt es re-Strukturen, mit wenigen Ausnahmen, nur für sehr kleine (insbesondere für zweiatomige) Moleküle. Den Einfluß der Schwingungen auf die Rotationskonstanten faßt man i.a. in den Rotations-Schwingungs-Wechselwirkungskonstanten a zusammen. Es gelten dann folgende Gleichungen:
Bg,v = Bg,e - S(ag,i(vi + di/2))  , g = a, b, c.           (13a) 

Bg,e = Bg,0 + ½ S(di ag,i)      , g = a, b, c.           (13b)
Bg,v sind die Rotationskonstanten in dem Schwingungszustand, der durch den Satz v von 3N-6 Schwingungsquantenzahlen vi gekennzeichnet ist. Bg,e bezeichnet die Rotationskonstanten für den hypothetischen, schwingungslosen Zustand, di sind die Entartungsgrade der Normalschwingungen und ag,i sind die Rotations-Schwingungs-Wechselwirkungskonstanten. Der Summationsindex i läuft hierbei über alle 3N-6 Normalschwingungen, die in dem N-atomigen Molekül auftreten.

2.2.4 Die rz-Struktur

Diese Struktur entspricht den Abständen zwischen den mittleren Positionen (Erwartungswerte, keine arithmetischen Mittelwerte) der Atome im Schwingungsgrundzustand (z steht hier für zero-point vibrations = Nullpunktsschwingungen). Für den mittleren Abstand rz erhält man (vgl. Abb. B.1):
z= <r>0² = (re + <Dz>0)² + <Dx>²0 + <Dy>²0         (14a)

Abb. B.1: Veranschaulichung der verwendeten Größen.

Dabei liegt die z-Achse jeweils in Kernverbindungsrichtung, die xund y-Achsen senkrecht dazu. Dz stellt die Abweichung in Kernverbindungsrichtung dar, während Dx und Dy senkrechte Schwingungsbeiträge wiedergeben.

Aus (14a) folgt:

rz = (re+<Dz>0)SQR(1+(<Dx>²0+<Dy>²0)/(re+<Dz>0)²)    (14b)
Eine Taylor-Entwicklung (SQR(1+x) » 1+x/2) liefert:
rz=(re+<Dz>0)(1+(<Dx>²0+<Dy>²0)/(2(re+<Dz>0)²))(15a)
  = re+<Dz>0+(<Dx>²0+<Dy>²0)/(2(re+<Dz>0)      (15b)
Die Erwartungswerte der senkrechten Schwingungsanteile sind typischerweise etwa 10-2 Å, ihre Quadrate also etwa 10-4 Å2. Da re meist zwischen 1 und 2 Å liegt trägt also der letzte Term in Gleichung (15b) i.a. weniger als 10-4 Å bei und kann vernachlässigt werden. So ist dann
rz » re + <Dz>0 ,                                          (16)
Für eine harmonische Schwingung ist <Dz>0 Null und die Differenz zwischen re und rz resultiert nur aus anharmonischen Beiträgen. Korrigiert man die gemessenen Rotationskonstanten sowohl um harmonische als auch um anharmonische Beiträge, so erhält man Be-Konstanten. Berücksichtigt man jedoch nur den harmonischen Anteil, so erhält man die Bz-Konstanten*.(vgl. Gleichung (13b)) Kennt man also nur das harmonische Kraftfeld§, so kann man aus den Bg,0 die Bg,z berechnen, aus denen prinzipiell die rz-Struktur zugänglich ist:
Bg,z = Bg,0 + ½S(di·ag,iharm.) , g = a, b, c.             (17)
* Einige Autoren benutzen für die zugehörigen Trägheitsmomente I* anstatt Iz und für die Abstände <r> anstatt rz.

§ Diese Parameter sind physikalisch identisch mit den manchmal verwendeten re,h-Parametern.

2.2.5 Die ra-Struktur

Diese Struktur wird aus der Gasphasen-Elektronenbeugung bestimmt. Die ra-Parameter (a für average) sind sozusagen die ursprünglichsten Strukturdaten dieser Methode. Sie werden direkt aus der Anpassung eines vorgegebenen Modells an die molekulare Streuintensitätsverteilung erhalten und sind - wie die r0-Parameter, die aus der Spektroskopie erhalten werden - als effektive Parameter zu betrachten.

2.2.6 Die rg-Struktur

Die rg-Struktur (g von centre of gravity) gibt die mittleren Kernabstände bei einer bestimmten Temperatur T wieder. Es erfolgt dabei eine Mittelung über alle bei dieser Temperatur besetzten (Rotations-) Schwingungszustände.

Die so definierten Bindungslängen sind sehr ähnlich zu rz, jedoch mit zwei wichtigen Unterschieden: erstens erfolgt die Mittelung bei rz nur über einen Schwingungszustand, bei rg dagegen über alle, bei einer bestimmten Temperatur besetzten Zustände. Zweitens handelt es sich bei rg um mittlere Bindungslängen, bei rz jedoch um Abstände zwischen mittleren Atompositionen. Dementsprechend kommen in den entsprechenden Formeln nicht die Quadrate der Erwartungswerte vor, sondern die Erwartungswerte der Quadrate und man erhält ganz analog zu Gleichung (15b) oben:

rg»re+<Dz>+(<Dx²>+<Dy²>)/(2(re+<Dz))    (18a)
Da <Dz> gegen re klein ist, kann man auch schreiben:
rg » re + <Dz> + (<Dx²> + <Dy²>)/2re          (18b)
Auch hier bedeutet Dz die Abweichung in Kernverbindungsrichtung, während Dx und Dy senkrechte Schwingungsbeiträge darstellen (vgl
Abb. B.1). Während <Dx>² und <Dy>² ohne größere Fehler vernachlässigt werden können, stellen <Dx²> und <Dy²> bei genauen Messungen durchaus signifikante Größen dar.

Die rg-Abstände werden i.a. aus den ra-Abständen durch folgende Beziehung erhalten:

rg = ra + l²/ra.                                                        (19)
Dabei ist l die zugehörige mittlere Schwingungsamplitude.

2.2.7 Die ra-Struktur

Die physikalische Bedeutung des ra-Abstands ist (ähnlich wie bei rz) der Abstand zwischen den mittleren Atompositionen - allerdings nicht im Schwingungsgrundzustand, sondern bei einer gegebenen Temperatur T. Er wird ähnlich den rz-Parametern definiert:
ra = re + <Dz> ,                                            (20) 
womit die Umwandlung von rg in ra gegeben ist durch
ra = rg - (<Dx²> + <Dy²>)/2re .                       (21)
Die ra-Parameter stellen also um die senkrechten Anteile korrigierte rg-Parameter dar. Diese senkrechten Anteile weisen i.a. keine kubischen Anharmonizitäten auf*, und so kann man - wie bei der Umrechnung von r0-Parametern in rz-Parameter - nur mit Kenntnis des harmonischen Kraftfeldes eine ra-Struktur errechnen. Da hierbei nur die senkrechten Beiträge berücksichtigt werden, stellen die ra-Abstände gewissermaßen Abstände der Projektionen der Atome auf die Kernverbindungsachsen dar. Die ra-Parameter berücksichtigen also den sogenannten "shrinkage-effect" und ergeben - im Gegensatz zu den rg-Parametern - eine geometrisch konsistente Struktur, die vor allem die Bindungswinkel der Gleichgewichtsanordnung in guter Näherung beschreibt [18b].

* Meist sind die Potentiale für Schwingungen dieser Art in guter Näherung symmetrisch und weisen deshalb keine kubischen Anharmonizitäten auf. Die quartischen Terme sind meist schon so klein, daß man sie ohne größere Fehler vernachlässigen kann.

Die Tatsache, daß die Erwartungswerte, die in die ra-Struktur eingehen, Mittelungen über die Boltzmann-Verteilung bei einer gegebenen Temperatur widerspiegeln, macht eine Extrapolation auf den absoluten Nullpunkt wünschenswert, bei dem nur noch ein energetischer Zustand (der Schwingungsgrundzustand) besetzt ist. Eine solche Struktur nennt man ra0-Struktur. Sie ist physikalisch identisch mit der rz-Struktur*.

* Deshalb sind diese Parameter physikalisch identisch mit den re,h-Parametern.

2.3 Trägheitsdefekt und Planarmoment

Die Hauptträgheitsmomente eines ebenen Moleküls in der Gleichgewichtskonfiguration sind nicht linear unabhängig, sondern es gilt:
Ic,e - Ia,e - Ib,e = 0.                               (22) 
Die Ig,e sind dabei die Hauptträgheitsmomente, die sich aus den Gleichgewichtspositionen der einzelnen Atome ergeben, und c stellt die Achse senkrecht zur Molekülebene dar*. Für ein reales, schwingendes Molekül gilt diese Beziehung jedoch nicht exakt. Vielmehr ist:
Ic,0 - Ia,0 - Ib,0 = D0.                          (23)
Man nennt D0 Trägheitsdefekt. Für ebene Moleküle ist sein Betrag typischerweise kleiner als 0,2 uŲ. Zum Trägheitsdefekt tragen zwar auch Zentrifugalverzerrungseffekte und elektronische Anteile bei, diese sind jedoch im allgemeinen unbedeutend.

* Die Achse senkrecht zur Molekülebene ist bei planaren Molekülen immer die Achse mit dem größten Hauptträgheitsmoment.

Der Schwingungsanteil kann nochmals unterteilt werden in Beiträge von in-planeund out-of-plane-Schwingungen. Erstere sind üblicherweise positiv, letztere dagegen negativ und meist auch kleiner. Im Fall von tiefliegenden out-of-plane-Schwingungen überwiegt dagegen deren Einfluß und der Trägheitsdefekt ist negativ.

Die Größe und das Vorzeichen des Trägheitsdefektes stellen also ein wichtiges Kriterium für die Ebenheit eines Moleküls und die dominierenden Schwingungen dar.

Setzt man in Gleichung (23) die Definitionen für die Hauptträgheitsmomente ein, so findet man folgende Beziehung:

D0 = -2S(mi ci²)                                            (24)
Die Summe S(mi ci²) nennt man auch Planarmoment bezüglich der c-Achse Pc. Da es für nicht-ebene Moleküle nur bedingt sinnvoll ist, von einem Trägheitsdefekt zu sprechen, benutzt man hier im allgemeinen das Planarmoment. Aus diesem Planarmoment läßt sich bei Kenntnis der c-Koordinaten der Atome außerhalb der (ab)-Ebene ein pseudo-Trägheitsdefekt berechnen:
Dc = 2(S(mi ci²) - Pc) .                                    (25)
Dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn, wie im Fall der zu untersuchenden Moleküle, die Planarität eines Ringsystems untersucht werden soll, welches Substituenten trägt, die nicht in dieser Ebene liegen.

2.4 Statistische Gewichte aufgrund von Kernspins

Beim Austausch identischer Kerne muß die Gesamtwellenfunktion des Moleküls bis auf das Vorzeichen unverändert bleiben. Man teilt die Wellenfunktionen deshalb in symmetrische (gleiches Vorzeichen) und antisymmetrische (anderes Vorzeichen) ein. Wenn die Kernspins identischer Kerne in einem Molekül nicht Null sind, so ist es immer möglich, sowohl symmetrische als auch antisymmetrische Gesamtwellenfunktionen zu konstruieren, indem man entsprechende Linearkombinationen der Kernspinwellenfunktionen wählt. Die Anzahl dieser Möglichkeiten ist jedoch für symmetrische und antisymmetrische Funktionen nicht gleich. Im Falle von Molekülen mit C2v-Symmetrie und zwei identischen Kernen (z.B. Wasser) gibt es bezüglich der 180°-Drehung um die zweizählige Achse (I+1)(2I+1) symmetrische, aber nur I(2I+1) antisymmetrische Kernspinfunktionen, wobei I den Kernspin der identischen Kerne darstellt. Die Bestimmung der Symmetrie der Rotationswellenfunktionen ist, besonders bei asymmetrischen Kreiseln, nicht ganz trivial. Man kann jedoch allgemein sagen, daß die Rotationswellenfunktionen aufeinanderfolgender Niveaus mit gleichem J abwechselnd symmetrisch und antisymmetrisch sind. Weist ein Molekül also eine entsprechende Symmetrie auf, so werden die Rotationsübergänge, die zu diesen Niveaus gehören, abwechselnde Intensitäten haben (im Fall von Wasser verhalten sich diese wie 3:1). Auf diese Art und Weise läßt sich oft relativ schnell entscheiden, ob ein Molekül eine bestimmte Symmetrie aufweist oder nicht.

3. Kreuzkonjugation

Obwohl die Bezeichnungen "Kreuzkonjugation" und "gekreuzt konjugiert" in vielen Publikationen zu finden sind, scheint sowohl über die Definition als auch über die Bedeutung dieses Effektes weitgehend Uneinigkeit zu herrschen.

3.1. Definition

Ein wesentlicher Bestandteil der Definition von Kreuzkonjugation, der allgemein anerkannt wird, ist das Vorhandensein zweier Doppelbindungen, die mit einer dritten Doppelbindung in Konjugation stehen, jedoch nicht linear konjugiert sind. Ein einfaches Beispiel für diese Unterscheidung sind zwei isomere Formen von C-H-, nämlich die beiden Konstitutionsisomeren 1,3,5-Hexatrien (IX) und 3-Methylen-1,4-pentadien (VII) (vgl. Abb. B.2). Während das Hexatrien linear konjugiert ist, gehört das Methylenpentadien zu den kreuzkonjugierten Verbindungen.

Eine weitere Bedingung, die oft zur Definition von Kreuzkonjugation angeführt wird, ist die, daß die beiden Doppelbindungen zwar in Konjugation zu einer dritten Doppelbindung stehen, jedoch nicht miteinander konjugiert sind. Das gilt zwar für das Methylenpentadien (VII), nicht jedoch für das cyclische Analogon Fulven (VI), das meist jedoch ebenfalls als kreuzkonjugierte Verbindung betrachtet wird.

Abb. B.2: Lineare Konjugation links und Kreuzkonjugation rechts.

Einige Autoren weiten den Begriff der Kreuzkonjugation noch auf "ungesättigte Zentren" anstelle der Doppelbindungen aus. Solche "ungesättigten Zentren" können auch Heteroatome mit einsamen Elektronenpaaren wie Stickstoff oder Sauerstoff sein. In diesem Sinne sind dann auch Verbindungen wie Harnstoff kreuzkonjugiert.

In dieser Arbeit wird die erste (und gebräuchlichste) Definition verwendet. Unter einem kreuzkonjugierten System soll also ein System von drei Doppelbindungen verstanden werden, in dem zwei Doppelbindungen mit einer dritten, "zentralen" Doppelbindung konjugiert sind, so daß sich ein Y-förmiges p-Bindungssystem ausbildet. Ganz bewußt ausgeklammert werden hier Moleküle mit chinoiden Strukturen. Solche Gruppen spielen vor allem in der Farbstoffchemie eine wichtige Rolle. Obwohl man sie gewissermaßen als "doppelt" kreuzkonjugiert betrachten könnte, bilden sie doch eine vollkommen andere Substanzklasse. Sie unterscheiden sich in ihren elektronischen Eigenschaften deutlich von den kreuzkonjugierten Verbindungen und werden demzufolge in dieser Arbeit nicht behandelt.

3.2 Bedeutung

3.2.1 Bindungslängen

Um den Einfluß der Kreuzkonjugation auf die Bindungslängen zu sehen, sollen im folgenden einige einfache Kohlenwasserstoffe betrachtet werden. Die Daten sind jedoch nur bedingt vergleichbar, da nicht immer dieselben Typen von Strukturdaten vorliegen. Alle im folgenden verwendeten Daten wurden aus [22] entnommen.

Abb. B.3: Strukturdaten einigerKohlenwasserstoffe aus [22].

Der erste Referenzpunkt ist das Ethen. Die experimentellen Werte für die C=C-Bindungslänge im Ethen betragen je nach verwendeter Methode und je nach der Art des angegebenen Abstands 1,336 bis 1,339 Å. Insbesondere der rg-Abstand ist hierbei interessant, da viele der Vergleichswerte ebenfalls als rg-Abstände vorliegen. Er beträgt im Ethen 1,337 Å.

Wird nun an das Ethen gleichsam eine weitere Doppelbindung angefügt, so gelangt man zum (linear konjugierten) 1,3-Butadien. Dessen C=C-Abstand (ebenfalls rg) beträgt 1,345 Å. Die Bindung ist somit deutlich länger als die im Ethen. Es sollte jedoch auch bemerkt werden, daß im Propen, bei dem keine klassische Konjugation vorliegt, der (rg-)C=C-Abstand 1,342 Å beträgt, also

ebenfalls etwas länger ist als im Ethen. Hingegen wurde der rs-Abstand mit 1,336 Å bestimmt, d.h. effektiv gleich wie im Ethen. Hier zeigt sich, daß die Effekte der Konjugation auf die Bindungslänge mitunter so klein sind, daß sie bereits von experimentellen Ungenauigkeiten und/oder den prinzipiellen Schwierigkeiten bei der Strukturbestimmung überlagert oder gar gänzlich überdeckt werden können - ganz abgesehen von Effekten, die andere funktionelle Gruppen ausüben können. Noch drastischer wird der Effekt, wenn man die Daten für Isobuten (2-Methyl-Propen), einem Ethen mit zwei geminalen Methylgruppen, vergleicht. Hier beträgt der rs-Abstand sogar nur 1,330 Å, während der rg-Abstand wiederum mit 1,342 Å bestimmt wurde.

Eine weitere Doppelbindung kann an das Butadien auf zweierlei Weise "angefügt" werden. So erhält man entweder das linear konjugierte 1,3,5-Hexatrien (IX) oder das kreuzkonjugierte 3-Methylen-1,4-pentadien (VII). Im Hexatrien wurde die Länge (ra) der zentralen Doppelbindung, welche mit zwei anderen Doppelbindungen in Konjugation steht, zu 1,368 Å (trans) bzw. 1,362 Å (cis) bestimmt, was eine ganz erhebliche Verlängerung gegenüber dem Ethen darstellt. Für die beiden äußeren Doppelbindungen wurden Bindungslängen von 1,337 Å gefunden, was genau dem (rg-)Wert für das Ethen entspricht.

Beim kreuzkonjugierten Methylenpentadien ist die zentrale Methylen-Doppelbindung ebenfalls mit zwei Doppelbindungen konjugiert. Ihre Bindungslänge (ra) wurde jedoch zu 1,349 Å bestimmt, während als Bindungslänge für die äußeren Doppelbindungen ein (ra-)Wert von 1,342 Å gefunden wurde. Daraus kann man folgern, daß hier im wesentlichen zwei Butadien-Systeme vorliegen, die sich kaum gegenseitig beeinflussen.

Wie oben schon erwähnt, ist das Methylenpentadien nicht eben gebaut, weswegen die Konjugation gestört sein könnte. Aber auch beim planaren Fulven, welches das cyclische Analogon zum Methylenpentadien darstellt, finden sich ähnliche Verhältnisse: für die beiden Doppelbindungstypen wurden (rs-)Abstände von 1,349 Å (exocyclisch, entspricht der mittleren Doppelbindung) bzw. 1,355 Å (endocyclisch, entspricht den äußeren Doppelbindungen) gefunden. Das heißt, auch hier weicht die Bindungslänge der mittleren Bindung deutlich von dem Wert ab, der in der entsprechenden linear konjugierten Verbindung gefunden wird. Jedoch sind die Verhältnisse auch hier wiederum nur bedingt vergleichbar, da die beiden endocyclischen Doppelbindungen miteinander konjugiert sind, was im linearen Hexatrien nicht der Fall ist. Man sieht also, daß ein Vergleich zwischen verschiedenen Molekülen nur sehr schwierig möglich ist. Eine Übersicht, in die auch weitere Moleküle mit einbezogen sind, findet sich in Abb. B.3.

3.2.2 Reaktivität und elektronische Effekte

Prinzipiell gilt es festzustellen, daß kreuzkonjugierte Verbindungen im allgemeinen sehr reaktiv, in vielen Fällen sogar ausgesprochen instabil sind. Die Gründe hierfür sind jedoch recht vielfältig. So lagern sich die kreuzkonjugierten Sechsringverbindungen hauptsächlich zu den tautomeren aromatischen Verbindungen um, die Fulvene neigen zu Oxidation und Polymerisation und Cyclopentadienon reagiert ähnlich dem (nicht kreuzkonjugierten) Cyclopentadien in einer DielsAlder-Addition mit sich selbst (vgl. Abb. B.4). Eine allgemeine Begründung für die erhöhte Reaktivität dieser Verbindungen läßt sich in Ermangelung eines gemeinsamen Mechanismus wohl kaum geben, doch könnte die Annäherung des untersten unbesetzten Molekülorbitals (LUMO) an das höchste besetzte Orbital (HOMO) eine Rolle spielen. Zur Untersuchung dieses Effektes wurden sowohl mit der HMO-Methode [23] als auch mit dem semi-empirischen AM1-Verfahren (vgl. C.3.2) der HOMO-LUMO-Energieunterschied DE und die p-Bindungsordnungen für einige ungesättigte Kohlenwasserstoffe berechnet (vgl. Tabelle B.3).

Abb. B.4: "Spontane" Reaktionen kreuzkonjugierter Verbindungen: Tautomerie des
Cyclohexadienon/Phenol-Systems (oben) und Dimerisierung von Cyclopentadienon (unten).

                  p-Bindungsordnung    DE (eV)
Molekül            AM1         HMO       AM1       HMO
C=C                1,0         1,0      11,99     10,20
 
 1
C=C           1    0,983        -
  2\C         2    0,177        -       11,36       -
 
 1 /C
C=C           1    0,970        -
  2\C         2    0,169        -       10,83       -
 
 1
C=C           1    0,963       0,894
  2\C=C       2    0,269       0,447     9,78      6,32
 
 1
C=C  3        1    0,958       0,871
  2\C=C       2    0,284       0,483     8,83      4,59
        \C=C  3    0,921       0,785
 
 1 /C=C       1    0,929       0,816
C=C  3        2    0,262       0,408     9,17      5,30
  2\C=C       3    0,964       0,908
 
 1 /C=C       1    0,929       0,759
C=C   |4      2    0,261       0,449
  2\C=C       3    0,920       0,778     9,50      4,44
     3        4    0,308       0,520
Tab. B.3: p-Bindungsordnungen und Anregungsenergien einiger ungesättigter Kohlenwasserstoffe,
berechnet mit dem semi-empirischen AM1-Verfahren und mit dem HMO-Modell.

Für Ethen sind die p-Bindungsordnungen bei beiden Methoden erwartungsgemäß genau 1,0 und auch die DE-Werte* stimmen mit 10,20 eV (HMO) bzw. 11,99 eV (AM1) noch gut überein. Für Butadien treten dagegen bereits deutliche Unterschiede auf. Hier beträgt DE(HMO) nur 6,32 eV, während DE mit der AM1-Methode zu 9,78 eV berechnet wird. Das Verhältnis der Energieunterschiede von Ethen und Butadien sollte auch grob dem reziproken Verhältnis der längstwelligen UV-Absorption (p-p*-Übergang) der Moleküle entsprechen. Die entsprechenden Wellenlängen sind für Ethen 190 nm und für Butadien 217 nm [24]. Es ergibt sich daraus ein Verhältnis von 1,14. Das Verhältnis der HOMO-LUMO Energieunterschiede von Ethen und Butadien ist für AM1 1,23, für die HMOMethode jedoch 1,61. Das semi-empirische Verfahren scheint die physikalische Wirklichkeit also deutlich besser zu beschreiben als das einfache HMO-Modell.

* Die Energieunterschiede ergeben sich aus den HMO-Rechnungen in Einheiten des Resonanzintegrals b, für das in [3] ein Wert von 5,1 eV angegeben wird,

Auch in den p-Bindungsordnungen zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Methoden. Während AM1 für Butadien fast dieselben Werte (p-Bindungsordnung der Doppelbindungen: 0,96) wie für Propen oder Isobuten liefert*, in denen keine klassische Konjugation vorliegt, - und damit kaum eine Veränderung gegenüber dem Ethen festzustellen ist - bewertet das HMO-Verfahren die Konjugation deutlich höher (p-Bindungsordnung der Doppelbindungen: 0,89). Dieser Trend setzt sich auch beim nächsten linear konjugierten Glied der Polyen-Kette, dem Hexatrien (IX), fort. Die mit AM1 berechneten Werte ändern sich kaum (p-Bindungsordnung der mittleren Doppelbindung: 0,92), während die HMO-Methode einen deutlich stärkeren konjugativen Effekt vorhersagt (p-Bindungsordnung der mittleren Doppelbindung: 0,79).

* Diese Moleküle können mit dem einfachen HMO-Verfahren nicht berechnet werden, da die Methylgruppen keine einfach besetzten p-Orbitale besitzen.

Dementsprechend verschieden fallen auch die Unterschiede zwischen dem linear konjugierten Hexatrien (IX) und dem kreuzkonjugierten Methylenpentadien (VII) aus. Während mit AM1 kaum ein Effekt zu sehen ist ändern sich die mit dem HMO-Verfahren berechneten Bindungsordnungen drastisch. Auch in den HOMO-LUMO-Energiedifferenzen unterscheiden sich die kreuzkonjugierten Kohlenwasserstoffe nicht auffällig von den linear konjugierten Verbindungen. Ein systematischer elektronischer Effekt ist auf diese Weise also nicht nachweisbar.

3.2.3 Zusammenfassung

Obwohl ein gewisser Kreuzkonjugations-Effekt nicht abstreitbar ist, so deutet doch vieles darauf hin, daß andere Effekte verschiedenster Art je nach gegebenem Molekül die Auswirkungen der Kreuzkonjugation durchaus überdecken können. Nach eingehender Betrachtung erscheint jedenfalls die Bedeutung der Kreuzkonjugation eher überschätzt zu werden.
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Zum vorherigen Kapitel

Zum nächsten Kapitel